Fünf Tote, viele Verletzte, aber keine der Forderungen erfüllt
Materielle Not
Ein wichtiger Grund für die hohe Streikbereitschaft war die materielle
Not, von der in diesen Jahren ein Grossteil der Basler Bevölkerung betroffen
war.
Zur Zeit des Ersten Weltkrieges stiegen die Preise stark an, ohne dass die
Löhne auch nur annähernd mithielten. Der Reallohn sank zwischen
1914 und 1919 um etwa 30 Prozent. So waren denn auch im Juli 1919 in Basel
6416 Haushaltungen mit 21 343 Personen offiziell notstandsberechtigt und wurden
vom Staat zum Beispiel mit Kartoffeln, Brot, Milch und Brennmaterial zu stark
verbilligten Preisen versorgt. Zum Reallohnverlust kam die hohe Arbeitslosigkeit,
die während des Krieges eingesetzt hatte. Sie betraf fast alle Branchen
und vergrösserte sich nach Kriegsende durch die Demobilisierung der Armee.
1919 waren in Basel viele Menschen latent unterernährt, weil sie sich
eine ausreichende und ausgewogene Ernährung nicht leisten konnten. Hunderte
waren im Sommer 1919 gezwungen, ihre Hauptnahrung in den staatlichen Volksküchen
einzunehmen, wo die Stadt Essen an Bedürftige abgab. Auch der allgemeine
Gesundheitszustand verschlechterte sich. Die Tuberkulose beispielsweise, eine
eigentliche Proletarierkrankheit, breitete sich wieder aus. Während 1914
in Basel 230 Menschen an Tuberkulose gestorben waren, betrug die Zahl 1919
304. Und die Grippeepidemie konnte im Winter 1918 deshalb so verheerend wirken,
weil viele Menschen wegen ungenügender Ernährung und feuchten und
kalten Wohnungen geschwächt waren.
Dazu kam, dass unmittelbar nach dem Krieg die Wohnungspreise so stark anstiegen,
dass sie von vielen Familien kaum noch bezahlt werden konnten. Dutzende von
Familien waren gezwungen, vorübergehend in den von der Stadt in der Kaserne
eingerichteten Notunterkünften zu logieren.
In dieser Zeit der materiellen Not stiegen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften
in Basel beträchtlich. Waren es Ende 1917 noch 9418 gewerkschaftlich
organisierte Arbeiter, stieg ihre Zahl bis Ende 1919 auf 18 255.
Streik bei der Färberei Clavel & Lindenmeyer
In der Färbereiindustrie betrugen die Lohnerhöhungen zwischen Juli
1914 und Juli 1919 durchschnittlich 160 Prozent für Männer und 145
Prozent für Frauen, während im gleichen Zeitraum die Preise um mehr
als 200 Prozent anstiegen. Die tiefsten Löhne auf dem Platz Basel zahlte
damals das Färbereiunternehmen Clavel & Lindenmeyer.
Am 22. Juli 1919 kam es bei Clavel & Lindenmeyer nach einer Protestaktion
einiger Färber gegen die tiefen Löhne und einer Versammlung eines
grossen Teils der Arbeiter zur Aussperrung der ganzen Belegschaft. Am 23.
Juli schaltete sich das staatliche Einigungsamt der Stadt Basel in den Konflikt
ein und machte am 24. Juli einen Vergleichsvorschlag. Die wesentlichsten Punkte:
Wiederaufnahme der Arbeit ohne Massregelung, Feststellung der Unzulässigkeit
von Versammlungen während der Arbeitszeit, Entschädigung der Arbeiter
für die Zeit der Aussperrung.
Die Vertreter der Belegschaft nahmen diesen Vergleich an. Die Arbeitgeberseite
hingegen lehnte ihn ab: Die Annahme des Vergleichs hätte den Widerstand
der betroffenen Belegschaft gegen die Unternehmungsleitung indirekt legitimiert.
Das sture Verhalten der Arbeitgeber rüttelte nun den Basler Arbeiterbund,
ein Zusammenschluss von Gewerkschaften, Partei und nahestehender Presse, auf.
Am 24. Juli bezeugten die Arbeiterbund-Delegierten ihre Solidarität mit
den Färbereiarbeiter. Auf nationaler Ebene versprach der Schweizerische
Textilarbeitnehmerverband den Ausgesperrten seine Unterstützung.
In der Basler Arbeiterschaft wurden in den folgenden Tagen vermehrt Stimmen
laut, die eine Erweiterung der Forderungen der Färbereiarbeiter nach
Wiedereinstellung und höheren Löhnen in Richtung eines allgemeinen
Preisabbaus und eines gesetzlichen Mindestlohnes für alle forderten.
Sie wollten die Sache der Färbereiarbeiter zur Sache der ganzen Arbeiterschaft
machen. Für viele war die Ablehnung des Vergleichs ein symbolischer Affront
gegenüber der ganzen Arbeiterschaft.
Ein am 28. Juli vom Basler Regierungsrat einberufenes Schiedsgericht erarbeitete
einen neuen Kompromissvorschlag, der aber von den zerstrittenen Parteien abgelehnt
wurde.
In der Folge kam es in Basel zum Streik aller Färbereiarbeiter. Die Belegschaften
der anderen Färbereibetriebe zeigten sich mit den Arbeitern von Clavel
& Lindenmeyer solidarisch. Rund 1100 Färbereiarbeiter traten am 29.
Juli in den Ausstand.
Die sich im Streik befindenden Arbeiter ernannten eine Streikleitung, die
sich noch am selben Tag mit einem Flugblatt an die Arbeiterschaft Basels wendete
und an die Solidarität aller Arbeitenden appellierte.
Der Aufruf zum Generalstreik
Am Abend des 30. Juli beschlossen die Delegierten des Arbeiterbundes, die
Färbereiarbeiter zu unterstützen. Ein unbefristeter Generalstreik
wurde ausgerufen. Im Streikaufruf standen das Schicksal und die Forderungen
der gesamten Arbeiterschaft im Zentrum. Der Generalstreik sollte nicht einfach
zu einem Unterstützungsstreik für die Arbeiter der Färbereibetriebe
werden, sondern zu einem Streik aller. Die vom Aktionskomitee gestellten Forderungen
umfassten die Senkung der Preise für Grundgüter wie etwa Brot oder
Heizmaterial, Massnahmen gegen den Mietzinswucher sowie die Erhöhung
der Reallöhne.
Der Streikaufruf brachte das Gefühl zum Ausdruck, die Arbeitgeber würden
die Arbeiterschaft bewusst in Armut halten, um mehr Mittel für ihren
eigenen Wohlstand abzweigen zu können. Besonders hervorgehoben wurde
auch «die reaktionäre und provokative Haltung der Färbereibarone,
die seit Monaten alle Forderungen ihrer Arbeiter mit brutalem Hohn ablehnten».
Noch am gleichen Abend beschlossen die Metall-, Chemie- und Staatsarbeiter
an Versammlungen, sich sofort dem Generalstreik anzuschliessen.
Am frühen Nachmittag des 31. Julis begannen die Streikenden in Gruppen
Betriebe stillzulegen, in denen noch gearbeitet wurde. Dabei stiessen die
Arbeiter im Kleinbasel kaum auf grösseren Widerstand. Im Grossbasel hingegen
kam es zu ersten Zusammenstössen mit der Polizei.
Das Militär greift ein
Die Nachricht, dass der Bundesrat auf Anfrage der Basler Regierung ein Truppenaufgebot
erlassen hatte, führte zu Empörung unter den Streikenden. Noch am
31. Juli fuhren gegen Abend die ersten Militärlastwagen durch Basel.
Zur gleichen Zeit kam es in der Innenstadt immer wieder zu grösseren
Menschenansammlungen. Mehrmals säuberte die Polizei den Barfüsserplatz.
Die Demonstranten wurden von einem Strassenzug in den anderen getrieben. Die
ersten Schüsse fielen, es gab die ersten Verletzten.
Am Nationalfeiertag zogen Militärpatrouillen durch die Stadt. Tausende
von Leuten waren auf der Strasse. Viele empfanden die starke Militärpräsenz
als eine Provokation. In der Greifengasse begannen einige Streikende das Kopfsteinpflaster
aufzureissen. Ein vorbeifahrendes Militärfahrzeug wurde mit Steinen beworfen.
Das Militär eröffnete das Feuer. Ein Mann wurde getötet, mehr
als zwanzig Menschen zum Teil schwer verletzt. Später versammelte sich
ein Teil der Demonstranten vor den Toren der Kaserne. Die diensthabende Wache
schoss nach kurzem Wortwechsel ohne Vorwarnung und aus nie geklärten
Gründen in die Gruppe. Drei weitere Menschen wurden dabei getötet,
viele verletzt.
Nach diesen Vorfällen verbot die Streikleitung den Streikenden, sich
weiterhin auf der Strasse aufzuhalten. Erneute Zusammenstösse sollten
damit unter allen Umständen vermieden werden.
Am 2. August wurde das Gebäude der Arbeiterpresse militärisch besetzt.
Gleichzeitig führten Militär und Polizei Personenkontrollen und
Hausdurchsuchungen durch. Einige Streikende wurden verhaftet.
Am 3. August, einem Sonntag, blieb es ruhig in der Stadt. Die Streikenden
waren verunsichert. Niemand hatte mit einem so energischen und harten Durchgreifen
von Polizei und Armee gerechnet, und man hatte auf grössere Unterstützung
in der übrigen Schweiz gehofft.
Das Ende des Streiks
Obwohl sich die Delegiertenversammlung des Arbeiterbundes am 4. August für
die Fortsetzung des Streiks ausgesprochen hatte, ging ein beträchtlicher
Teil der Arbeiter am 5. August wieder zur Arbeit. Einige Trams fuhren wieder,
verschiedene Läden wurden wieder geöffnet.
Am 6. August fand auf Anregung der Basler Regierung im Bundeshaus eine Vermittlungskonferenz
zwischen den Parteien statt. Eine Einigung konnte jedoch nicht erzielt werden.
Am folgenden Tag boten die Arbeitgeber der Textilindustrie eine zehnprozentige
Lohnerhöhung an. Der Textilarbeitnehmerverband erklärte sich enttäuscht
über das Angebot, akzeptierte es aber unter dem Eindruck der Ereignisse
gleichwohl.
Der Basler Arbeiterbund entschied sich darauf für den Abbruch des Streiks.
Das Ende des Streiks wurde auf den 8. August, zwölf Uhr mittags, festgesetzt.
Das Ergebnis des Generalstreiks war für die Arbeiterschaft ernüchternd:
Zehn Tage lang wurde gestreikt, fünf Streikende wurden erschossen und
viele verletzt - von den im Streikaufruf erhobenen Forderungen wurde keine
erfüllt.
Recht auf Streik
In den letzten Jahrzehnten ist es in Basel immer wieder zu Streiks gekommen.
Keiner aber erreichte das Ausmass des Generalstreiks von 1919. In den letzten
Jahren hat in Basel vor allem der Frauenstreik von 1991 und der Ausstand der
BVB-Chauffeure vom Sommer 1995 für Aufsehen gesorgt.
Durch die Verankerung des Streikrechts in der neuen Bundesverfassung und den
neuen Bundesgerichtsentscheid wird die Position der Gewerkschaften in der
Schweiz gestärkt. Die Gewerkschaften befinden sich heute in einer Situation,
wo Unternehmensentscheide immer öfter von kurzfristiger Gewinnmaximierung
und somit häufig fehlender sozialer Verantwortung geprägt sind.
Auch im öffentlichen Dienst sind Bestrebungen festzustellen, auf Kosten
der sozialen Verantwortung die Wirtschaftlichkeit zur alleinigen Entscheidungsmaxime
zu machen. In diesem Umfeld stellt sich für die Gewerkschaften verstärkt
die Frage, wann und wie sie vom Recht auf Streik Gebrauch machen müssen.
*
Silvia Schenker, geb. 1954, Sozialarbeiterin, Präsidentin VPOD Basel,
Basler Grossrätin (SP).
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Jonas Peter Weber, geb. 1969, Jurist und Politologe, Co-Präsident des
Sozialdemokratischen Quartiervereins St. Johann.
Montag
9. August 1999 |
Aus dem online-Archiv
der BaZ
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